Seit ich denken kann, haben mir fremde Menschen schon nach ganz kurzer Zeit sehr viel, auch Persönliches, aus ihrem Leben erzählt. Irgendetwas in meiner Art scheint Menschen wohl das Gefühl zu vermitteln, dass ich einen sicheren und vertrauenswürdigen Raum für sehr private Geschichten zur Verfügung stelle.
So hat mir kürzlich eine Frau im Wartezimmer sehr ausführlich und emotional über ihre Tochter erzählt. Diese überlegt, ihre Arbeit zu kündigen, weil die Vorgesetzten sie dort schlecht behandeln. Sie hat auch schon Mobbing in ihrer Ausbildung erfahren und bereits mehrere Arbeitgeber verlassen, weil sie auch dort mit Kollegen und der Chefs nicht zurechtgekommen ist.
Schon in der Schule, so erfahre ich, war das Kind der ungerechten Behandlung von Lehrern und anderen Schülern ausgesetzt. Nie hat jemand ihr wahres Potenzial erkannt und sie gefördert, wie es ihr eigentlich zugestanden hätte.
In diesem Gespräch leuchtete mein Opfer-Radar auf allerhöchster Alarmstufe!
Mobbing ist traumatisch und kann das Selbstwertgefühl zerstören
Vorab, damit keine Missverständnisse entstehen: Mobbingerfahrungen sind sehr schlimm. Punkt! Als Lehrerin weiß ich ganz genau, wie sehr Mobbing Menschen traumatisieren und das Selbstwertgefühl zerstören kann. Das möchte ich hier nicht verharmlosen!
Und auch, dass Schulen im Hinblick auf wertschätzende Behandlung und respektvolles Miteinander noch einiges tun müssen ist, eine Forderung, für die ich mich immer einsetzen werde.
Die Art, wie diese Mutter jedoch den Opferstatus ihrer Tochter verinnerlicht hat und diese natürlich, mit den allerbesten Absichten, wie ich sie jeder Mutter unterstelle, auch in ihrem Opferstatus bestärkt, macht mir große Sorgen.
Ich habe mehr als 15 Jahre in der Erwachsenenbildung gearbeitet, einem Institut, an dem junge Menschen ihr Abitur oder Fachabitur nachholen können (bei Interesse an dieser großartigen Schule in Düsseldorf, klicke auf den Link zum Riehl-Kolleg). Hier durfte ich täglich erleben, wie Menschen, die es sich in der Opferrolle bequem gemacht haben, die Verantwortung für ihr Leben und ihren Einfluss auf die Dinge abgeben.
„Ich konnte nicht pünktlich zum Unterricht erscheinen, die Bahn hatte Verspätung.“
„Ich konnte nicht für die Klausur lernen, meine Mitbewohnerin ist abends immer so laut.“
„Es ist nicht meine Schuld, dass meine Noten so schlecht sind, Herr/ Frau XY kann eben nicht erklären.“
Die Opferrolle lässt keinen Handlungsspielraum
Menschen, die in der Opferrolle stecken, suchen die Verantwortung grundsätzlich nicht bei sich selbst, sondern bei anderen. Dabei geht es übrigens nicht um Schuld! Natürlich ist niemand daran Schuld, wenn er Mobbing erleben muss. Oder wenn die Bahn verspätet kommt oder ein Lehrer seinen Job nicht vernünftig macht.
Es geht um das tiefe Bewusstsein, dass das Leben uns nichts schuldig ist. Dass niemand in unserem Leben die Scherben wegräumt, die wir vielleicht wirklich ganz unverschuldet vorfinden. Es geht darum, sich bewusst zu machen, dass wir für unser Leben die volle Verantwortung tragen!
Das Bequeme an der Opferrolle ist, dass wir uns nicht bewegen müssen. Schuld sind ja die anderen, also können wir auch nichts weiter tun, als uns zu beschweren, zu jammern und uns selbst zu bemitleiden.
Das Schlimme an der Opferrolle ist, dass sie uns keinen Handlungsspielraum lässt. Wer sich an die Opferrolle klammert, kann nur RE-agieren, aber nicht gestalten. Wenn wir die volle Verantwortung für unser Leben übernehmen, schaffen wir uns, auch wenn wir völlig schuldlos in ganz miese Situationen geraten, Handlungsoptionen. Diese Optionen sind Grundlage für Entscheidungen, die wir in unserem Leben treffen.
Menschen, die aus der Opferrolle aussteigen, übernehmen Verantwortung für ihr Leben, treffen aus dieser Verantwortung heraus Entscheidungen und wissen, dass sie auch die Konsequenzen für diese Entscheidungen tragen.
Wer sich an die Opferrolle klammert sucht keine Lösungen
Die Mutter, die ich im Wartezimmer traf, bestärkt ihre Tochter nicht darin, Verantwortung zu übernehmen. Aus Mitleid, welches ich als Mutter trotz allem gut nachvollziehen kann, hält sie ihre Tochter im Glauben, dass alle Welt ihr Unrecht tut. Natürlich habe ich in diesem Gespräch versucht, ein paar Lösungen vorzuschlagen. Das hat eine Reaktion hervorgerufen, die sehr typisch ist für Menschen in der Opferrolle: „Das geht nicht, weil…“
Wer sich an die Opferrolle klammert, sucht keine Lösungen, sondern Gründe, um am Status Quo festhalten zu können. Menschen im Opfer-Modus erzählen dir also nicht von ihrem Leid, weil sie etwas verändern möchten, sie wollen lediglich deinen Zuspruch und dein Mitleid.
Mein Mitleid gilt der jungen Frau! Obwohl sie eine so liebevolle Mutter hat, die mit Sicherheit ihr Bestes gibt, um ihr geliebtes Kind im Leben zu begleiten. Wahrscheinlich wird sie noch bei vielen Arbeitgebern ihr Glück versuchen und immer wieder ähnliche Erfahrungen machen. Tief verankert in der Gewissheit, keine andere Chance im Leben zu haben, als hilflos der schlechten Behandlung durch andere ausgeliefert zu sein.
Dabei blutet wirklich mein Herz. Einer fremden Frau im Wartezimmer, die mir ihr Leid klagt, werde ich aber dennoch nicht sagen, dass sie mit ihrem Verhalten dazu beiträgt, ihrer Tochter den Ausstieg aus der Opferrolle zu versagen. Dafür habe ich weder die richtige Rolle, noch ist ein zufälliges Gespräch im Wartezimmer ein geeigneter Rahmen.
Aus Schüler-Opfern werden erwachsene Opfer
Als Lehrerin habe ich immer dafür gekämpft, dass meine Schüler und Schülerinnen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Verantwortung etwas ist, wofür man sich bewusst entscheidet. Dass man bei jedem Problem den Fokus auf die Frage lenken darf: Was kann ICH tun, um diese Situation positiv zu verändern? Diese Art der Arbeit war für mich immer mindestens genauso wichtig wie die Vermittlung von Sachinhalten.
Aber auch als Kommunikationstrainerin nehme ich bei meinen Kursteilnehmerinnen und Kundinnen kein Blatt vor den Mund. Denn natürlich werden aus den Schülern in der Opferrolle von heute die erwachsenen Opfer von morgen. Sie kommen zu mir, weil sie sich von ihren Vorgesetzten und Kollegen nicht gewertschätzt und schlecht behandelt fühlen.
Sie möchten von mir lernen, wie sie sich souverän und selbstbewusst Gehör verschaffen können. Die absolute Voraussetzung für echte Souveränität ist indes immer die Bereitschaft, zu 100% die Verantwortung für uns und unser Leben zu übernehmen. Wir alle können jederzeit Opfer werden: vom Verhalten anderer Menschen, von politischen oder wirtschaftlichen Entwicklungen, von Schicksalsschlägen. Darüber haben wir keine Macht und daran tragen wir keine Schuld. Unsere Verantwortung beginnt da, wo wir uns entscheiden, entweder ein hilfloses Opfer zu sein oder uns Optionen zu schaffen, die uns handlungsfähig machen.
Selbstverständlich gibt es auch zu diesem Artikel wieder ein Video: